"Papierkorb-Effekt" und "Jackpot-Effekt": Über den Wert von Wählerstimmen an der Fünf-Prozent-Hürde

Einleitung

Bei vielen politischen Wahlen in Deutschland (Ausnahme sind die Kommunalwahlen in manchen Bundesländern) gilt eine sogenannte Sperrklausel oder 5-Prozent-Hürde. Das ist eine Regel im Wahlrecht, die nach der Auszählung der abgegebenen Stimmen alle Stimmen unwirksam macht, die für Parteien (1) abgegeben wurden, die weniger als 5% (also ein Zwanzigstel) der Stimmen erreicht haben.
Weil das Wahlvolk oft langjährigen Gewohnheiten folgt, lässt sich vor den Wahlen schon vermuten, welche Parteien von dieser Sperrklausel betroffen sein könnten. Die Umfragen, die vor größeren Wahlen veröffentlicht werden, geben weitere Vorhersagen darüber ab.

Für uns Wahlberechtigte stellt sich die Frage, ob wir dieser Sperrklausel eine Auswirkung auf unsere Wahlentscheidung geben sollen, und wenn ja, welche.
Dabei kann man sich natürlich auf den Standpunkt stellen, dass man sich von einer solchen rechnerischen Regel grundsätzlich nicht die Wahlentscheidung beeinflussen lassen will, sondern nach dem demokratischen Prinzip der Meinungsfreiheit einfach das wählt, was nach der eigenen politischen Anschauung das beste Programm vertritt bzw. das geringste Übel ist. Auf dieser Webseite wird dem Für und Wider dieses ehrenhaften Ansatzes nicht näher nachgegangen (auch nicht dem Sinn der Fünf-Prozent-Klausel oder parlamentarischer Wahlverfahren überhaupt, über die es sich durchaus zu diskutieren lohnt); wer sich so entscheidet, kann auf die mathematischen Überlegungen, wie sie hier dargestellt werden, verzichten.
Wer dagegen taktisch wählt (also überlegt, wo sein "Kreuzchen" angesichts der vorhandenen bzw. vorhersehbaren politischen Landschaft möglichst viel der eigenen politischen Anschauung entsprechende Wirkung hat), muss sich mit der Wirkung der 5-Prozent-Klausel durchaus beschäftigen, wenn sie eine der infrage kommenden Parteien betreffen könnte.

"Papierkorb-Effekt" und "Jackpot-Effekt"

Wenn eine Partei aufgrund der Voraussagen in Gefahr ist, wegen der Sperrklausel keine Sitze zu bekommen, gibt es zwei verschiedene typische Auswirkungen auf die Wahlentscheidung von Leuten, die sich überlegen, diese Partei zu wählen.
Einerseits ist die Möglichkeit, dass die den (zu wenigen) abgegebenen Stimmen entsprechenden Sitze durch die Sperrklausel verloren gehen, ein Risiko für die Wirkung der Stimme. Eine Stimme für eine Partei, die an der 5-Prozent-Hürde gescheitert ist, ist für die Sitzverteilung wirkungslos - die sprichwörtliche Stimme für den Papierkorb. Viele Leute, die sich inhaltlich vorstellen könnten, die eine oder andere kleine Partei zu wählen, tun es dann doch nicht, weil sie diesen Effekt fürchten und sie lieber ihre Stimme irgendwo einsetzen, wo sie zur parlamentarischen Machtverteilung wahrscheinlicher etwas beitragen kann.
Andererseits hat eine Partei, deren Ergebnis (in Sitzen) von der Sperrklausel bedroht ist, Stimmen natürlich besonders nötig. Die Überlegung, eine einem nahestehende Partei deswegen zu wählen, ist auch nicht unbedingt eine emotionale Mitleids-Reaktion. Schließlich sind die beispielsweise 19 Sitze, die in einem (angenommenen) 400-Sitze Parlament einer 4,75%-Partei ohne die Sperrklausel zustünden, zwar verloren. Wenn es der Partei aber gelingt, das fehlende viertel Prozent doch noch zusammen zu bekommen und die Hürde knapp zu überwinden, dann beginnt sie ja nicht mit 1 Sitz, sondern die vollen 20 Sitze für ihr 5-Prozent-Ergebnis fallen ihr zu.(2) Eine Partei, die in den Umfragen in der Nähe der 5-Prozent-Hürde liegt, ist durch dieses "Alles oder Nichts" für ihre möglichen WählerInnen wie ein Jackpot, in dem sich 19 Sitze angesammelt haben: Vielleicht knackt den Jackpot sowieso jemand anders, vielleicht wird er auch gar nicht ausbezahlt. Aber es lohnt sich erheblich mehr, an dieser "Verlosung" teilzunehmen, als an einer anderen, wo zwar weniger Nieten im Topf sind, für den gleichen Einsatz aber im besten Fall 1 müder Sitz zu gewinnen ist.

Um diese Effekte in ihrer Wirkung genauer einschätzen zu können, muss man etwas Mathematik betreiben. Dass Wahlen etwas mit Statistik zu tun haben, ist bekannt; was wir hier brauchen, stammt aus einem Teilgebiet der Mathematik, die viel mit Statistik zu tun hat, nämlich der Wahrscheinlichkeitsrechnung.(3) Sehen wir uns also einmal an, wie man diese Frage mathematisch zu fassen bekommt.(4)

Mathematischer Ansatz

Das Grundprinzip der parlamentarischen Verhältniswahl ist ja, dass sich die Wählerinnen und Wähler je nach ihrer politischen Meinung unter den antretenden Parteien ihre Stimmen verteilen, und denen dann nach Auszählung des Wahlergebnisses im gewählten Parlament die Parlamentssitze in ungefähr demselben Verhältnis zustehen, wie sie Stimmen bekommen haben.
Eine Partei, die beispielsweise ein Drittel der abgegebenen gültigen Stimmen erhalten hat, bekommt im Idealfall dann auch ein Drittel der Sitze (also Stimmen bei Parlamentsabstimmungen) im gewählten Parlament. Sie kann dann damit eine Parlamentsabstimmung gewinnen, wenn noch andere Parteien mit insgesamt mehr als einem Sechstel der Sitze (1/3 + 1/6 = 1/2) in dieser Abstimmung mit ihr stimmen, also Parteien, die in der Verhältniswahl auch von mindestens einem Sechstel der WählerInnen gewählt wurden.

Eine Stimme aus dem Wahlvolk wird also mit einem bestimmten Verkleinerungsfaktor zu einem Bruchteil eines Parlamentssitzes umgerechnet. Wenn beispielsweise 1.000.000 Stimmen zur Wahl eines 123-Sitze-Parlaments ausgezählt werden, dann ist jedes Stimmenprozent (also zehntausend Stimmen) 1,23 Sitze wert, und eine Stimme 0,000123 Sitze.
An dieser Zahl sieht man zweierlei.
Erstens kommen beim Berechnen der Sitze im Allgemeinen "krumme" Zahlen heraus. Um ganze Sitze zuteilen zu können, gibt es verschiedene Rechenverfahren, deren Einzelheiten und Unterschiede anderswo ausführlich diskutiert werden (z.B. auf www.wahlrecht.de (5)) Auf diese Krummheit der Zahlen werde ich noch zurückkommen.
Zweitens ist der Wert einer Stimme, in Sitzen ausgedrückt, ziemlich klein, was viele Leute zu der Auffassung bringt, dass eine Stimme überhaupt nichts bewirkt und daher egal ist, was und ob man überhaupt wählt. Normalerweise gehen große Wahlen ja auch so aus, dass eine Stimme mehr oder weniger für irgendeine Partei, im Nachhinein gesehen, an der Sitzverteilung tatsächlich überhaupt nichts geändert hätte.
Allerdings kann die Auffassung, dass die Wahlentscheidung für den Wahlausgang keine Rolle spielt, natürlich auch nicht so ganz stimmen. Schließlich setzt sich das Wahlergebnis zunächst aus nichts Anderem zusammen als aus Stimmen.
Hier kommt die Wahrscheinlichkeitsrechnung ins Spiel.
Die Möglichkeit eines sehr unwahrscheinlichen Ereignisses kann durchaus der Rede wert sein, wenn das Ereignis im Fall, dass es doch eintritt, schwerwiegend genug ist. Sonst würden die Leute nicht Lotto spielen, und die Brandschutz- und Kernkraft-Vorschriften müssten nicht Vorkehrungen gegen ungewöhnliche Verkettungen von Umständen vorsehen. Und es ist ja nicht auszuschließen, dass eine Wahl mal mit einer Stimme entschieden wird. In diesem Fall hätten alle, die die betroffene Partei oder eine der betroffenen Parteien -je nachdem, ob eine Stimme gefehlt hat oder gerade nicht- gewählt haben bzw. nicht gewählt haben, den Wahlausgang persönlich entschieden. Den meisten Leuten wird das in ihrem ganzen Leben nicht passieren (ebenso wenig wie sie im Lotto gewinnen, wegen falschen Vorhangmaterials an Rauchvergiftung sterben oder das Kernkraftwerk in ihrer Nachbarschaft durchgehen wird). Aber wenn sie entscheiden, ob und wen sie wählen (oder ob sie Lotto spielen, wie gefährlich sie Kernkraftwerke finden, wie genau sie die exotischeren Empfehlungen der Feuerwehr beachten), dann ist es schon interessant, diese Wahrscheinlichkeit zu berechnen(6).
Man kann hier ein vereinfachtes mathematisches Modell aufstellen, indem man sich die Stimmen, die für eine Partei abgegeben worden sind, in irgendeiner Reihenfolge (Zeitpunkt des Aufpralls in der Wahlurne, Anzahl der Haare mal Geburtsdatum des Wählers - es ist mathematisch egal, was man sich da ausdenkt, solange es die Stimmen gedanklich eindeutig sortiert) aufgereiht denkt.
Beispielsweise waren 123 Sitze zu vergeben, und es wurden insgesamt 8130mal so viele gültige Stimmen abgegeben (also 999.990), sodass für jeweils 8130 Stimmen ein Sitz vergeben wird. Die Partei A hat 123.456 Stimmen erhalten, womit sie 15 Sitze erhält. Dann kann man sich, je nach Rundungsverfahren, z.B. vorstellen, dass (erstmal ohne Sperrklausel betrachtet) die 4066ste, 12196ste, 20326te usw. ... 117886ste Stimme(7) jeweils "einen Sitz gewonnen" haben, und die anderen Stimmen eben "Nieten gezogen" haben.
Die Wahrscheinlichkeit, dass man in dieser Wahl eine "gewinnende" Stimme abgegeben hat, ist 1/8130. Das entspricht auch der Wahrscheinlichkeit (ohne Einbeziehung von Wahlprognosen und Sperrklausel), dass es einer bestimmte Partei zur Ergattern ihres "letzten" Sitzes tatsächlich auf jede Stimme angekommen ist.

Eine Stimme ist also bei dieser Wahl einen 8130stel Sitz wert, so wie ein Lotterielos, mit dem man mit einer Wahrscheinlichkeit von 1/100.000 den Gewinn von 25.000 Euro einsackt, nach der Regel der Wahrscheinlichkeitsrechnung für den "Erwartungswert" 25 Cent wert ist.

(Wenn man die 5%-Sperrklausel mitberücksichtigt, ändert sich in dem "Gewinner-Stimmen"-Modell folgendes: die Stimmen 4066, 12196, ... 44716 waren "Nieten", dafür gewinnt die Stimme Nummer 50000 den "Jackpot" von sechs Sitzen auf einmal. Danach geht es ab Stimme 52846 mit den normalen Gewinnern weiter wie vorher.)

Nun ist es ja in Wirklichkeit so, dass man im Vorhinein nicht genau weiß, wie viele Stimmen abgegeben werden. Auch geht die Rechnung "Stimmenzahl geteilt durch Sitze" im Allgemeinen nicht genau auf, und die genaue Zahl der Stimmen, die eine Partei für eine bestimmte Anzahl Sitze braucht, ist bei den üblichen Verfahren zur Verteilung der Anteile "hinterm Komma" von den Stimmenzahlen der anderen Parteien abhängig, die man im Vorhinein ja auch nicht kennt. Die Aussage, ob nun die 98765te Stimme für eine Partei eine "Niete" ist oder nicht, ist also ihrerseits Wahrscheinlichkeitssache. Glücklicher Weise sind bei großen Wahlen die Verhältnisse schon wieder so unsicher, dass sich die Wahrscheinlichkeit, dass die "soundsovielte" Stimme keine "Niete" ist, sich ziemlich gleichmäßig über die Nummern verteilt (außer bei den ersten Sitzen in der Nähe von 0%, aber da greift ja bei den Wahlen, um die es hier geht, ohnehin die Sperrklausel und macht alle Stimmen zu "Nieten"). Ob die Stimme 98765 nun schon überflüssig für den 11. Sitz oder noch nicht ganz ausreichend für den 12. oder gar 13. Sitz ist, ist vor der Wahl Spekulation.
Man kann letztlich sagen, bei der Vergabe von 123 Sitzen ist ein Prozent 1,23 Sitze wert, 0,001 Prozent sind 0,00123 Sitze wert usw., ohne zu wissen, wievielen Prozent(bruchteilen) nun eine Stimme entspricht.(8) Der Wahlerfolg und die Sitzzahl werden nicht mehr in einzeln zählbaren Einheiten betrachtet, sondern sozusagen zu einer gleichmäßigen Soße verrührt, die man mit Kommazahlen messen oder in glatten Kurven aufzeichnen kann. Bei der Verhältniswahl ist die Abhängigkeit zwischen Wahlergebnis und erhaltenen Sitzen einer Partei im Idealfall dann ganz geradlinig:
Abbildung: Kurve für den idealisierten Zusammenhang von Wahlergebnis und statistisch zu erwartender Sitzzahl; rechts: Ausschnitt mit "Delle" durch Sperrklausel
(langweilige gerade ansteigende Kurve: nichts gibt nichts, alles gibt alles) (ab 5% gerade ansteigende Kurve, die aber bis 5% auf Null verharrt und dann abrupt hochspringt) Die Unsicherheit, wieviele Stimmen eine Partei kriegen wird, und die Unsicherheit, wieviele Stimmen wieviel Prozent sind, kann damit "in einem Aufwasch" erledigt werden, da man ja die Wahlvorhersagen ohnehin in Prozentergebnissen vorliegen hat. Und die Stelle, an der die Sperrklausel greift, sowieso.

Damit kommen wir auf die mathematische Behandlung der Sperrklausel. Mit dieser ist das Ergebnis einer Partei für den Erfolgswert einer ihrer Stimmen nun nicht mehr egal. Man muss also die Vorhersagen über das Ergebnis in die Überlegung mit einbeziehen. Die Vorhersagen werden in der Regel als vorhergesagte Prozentzahl angegeben. Was mehr oder weniger stillschweigend dazu kommt, ist die Unsicherheit in Form einer gewissen Schwankungsbreite. Dabei ist dieser Unsicherheitsbereich natürlich auch nicht scharf begrenzt. Eine Vorhersage von 4,5% sagt z.B. aus, dass das Ergebnis mit einer größeren Wahrscheinlichkeit 4,5% sein wird als 5%. Genausogut wie 5% kann es aber auch 4% sein. Unwahrscheinlicher ist schon, dass das Ergebnis 5,5% oder 3,5% sein wird; noch unwahrscheinlicher, dass es 6% oder 3% sein wird. Viele kennen wahrscheinlich noch die Kurve einer solchen typischen Wahrscheinlichkeitsverteilung, die früher auf den Zehnmarkscheinen abgebildet war, zusammen mit dem Mathematiker Gauß, nach dem sie auch Gaußkurve genannt wird. Je nachdem, wie ungenau oder genau die Vorhersage ist, ist die Kurve breit und flach oder hoch und schmal.
Abbildung: Gaußkurven mit verschiedenen Streuungen
(Kurve in der Form eines flachen Berges) (Kurve in der Form eines mäßig steilen Berges)

Wenn man die Vorhersage als Verteilung der Wahrscheinlichkeiten für verschiedene mögliche Wahlergebnisse nimmt, die die betreffende Partei ohne die eigene Stimme bekommt, dann kann man daraus eine Vorhersage machen, wie die Wahrscheinlichkeiten mit der extra Stimme verteilt sind, die man durch eigene Wahlentscheidung hinzufügen kann. Die Kurve ist dann um ein winziges Stück, das einer Stimme entspricht, nach rechts verschoben.(9) In der Zeichnung ist dieses Stückchen zur Veranschaulichung übertrieben dargestellt, damit man überhaupt etwas davon sieht.
Abbildung: Veranschaulichung des Ansatzes
(Die Kurve vom vorigen Bild, darunter zwei geringfügig gegeneinander versetzte Gaußkurven)

Was wir bestimmen wollen, ist ja der Unterschied, die diese eine Stimme macht. Auf der linken Seite, bei den kleineren Ergebnissen, gehen alle Wahrscheinlichkeiten für das Eintreffen etwas zurück. Auf der rechten Seite, bei den größeren Ergebnissen, steigen die Wahrscheinlichkeiten etwas. Zur Berechnung kann man jetzt, wenn man die Form der Kurve kennt, für jedes der theoretisch möglichen Ergebnisse (z.B. von links nach rechts durchgehend) den Unterschied berechnen, um den die Wahrscheinlichkeit dieses Ergebnisses durch die eigene Stimme schrumpfen oder wachsen würde, und den dann jeweils malnehmen mit der "krummen" statistischen Zahl der Sitze, die dieses Ergebnis für die Partei bedeuten würde (oberer Teil der Zeichnung, an der Stelle immer genau darüber).(10) Die gesammelten Ergebnisse dieser Multiplikationen werden aufaddiert und ergeben insgesamt die Änderung, die durch die zusätzliche Stimme an der Zahl der Sitze bewirken würde.

An diesem Ansatz kann man sich auch die verschiedenen Effekte der Sperrklausel wieder veranschaulichen (und dabei nochmal testen, ob der Ansatz etwas taugt).
Wenn die Partei eine "Splitterpartei" mit einer Vorhersage von z.B. 2% ist, dann werden die interessanten Bereiche der beiden Kurven so weit links liegen, dass dort die Sitzzahl immer 0 ist. Im Bereich unter 2% multipliziert man seine negativen, im Bereich über 2% seine positiven Wahrscheinlichkeitsänderungen mit den 0,0 Sitzen, heraus kommt immer 0, und die Summe von lauter Nullen ist auch wieder Null. Nur jenseits von 5%, wo die Kurven beide schon sehr nahe der Wahrscheinlichkeit von 0 für "unmöglich" sind und sich daher auch kaum voneinander unterscheiden, gibt es mehr Sitze, aber wenn sich die Kurven kaum voneinander unterscheiden, ist die Differenz, die mit der Sitzzahl malgenommen wird, auch schon verschwindend klein und das Gesamtergebnis profitiert kaum noch. Ergebnis: Die Stimme bewirkt so gut wie nichts für die Sitzverteilung; der klassische "Papierkorb-Effekt".
Bei einer Partei, die praktisch sicher über die Hürde kommt, z.B. mit einer Vorhersage von 40%, werden links von 40% die negativen Wahrscheinlichkeitsänderungen (die Stimme macht dieses Ergebnis unwahrscheinlicher) mit den etwas kleineren Sitzzahlen multipliziert, und rechts von 40% die positiven Wahrscheinlichkeitsänderungen (die Stimme macht dieses Ergebnis wahrscheinlicher) mit den etwas größeren Sitzzahlen. Ergebnis: Der positive Beitrag überwiegt, die extra Stimme nützt der Partei (im statistischen Sinne) bei der Sitzvergabe, was ja auch nicht überrascht.
Dabei ist es auch nicht erheblich, ob das Ganze um 40% herum oder um 30% herum passiert. Bei 30% sind die Sitzzahlen niedriger, aber sowohl bei den negativen als auch bei den positiven Wahrscheinlichkeitsänderungen immer um den gleichen Betrag, sodass sich das in der Gesamtsumme ausgleicht. Eine Stimme für eine 30%-Partei ist so viele statistiche Sitze wert, wie eine für eine 40%-Partei.

Berechnet man nun das Ergebnis für eine Partei mit einer Vorhersage von 5%. Links von 5% werden negative Wahrscheinlichkeitsänderungen mit Sitzzahlen von 0 mulitpliziert, der Beitrag dieser Gegend ist 0, wie bei der "Splitterpartei". Rechts von 5% werden dagegen positive Wahrscheinlichkeitsänderung mit Sitzzahlen multipliziert, die von der Sperrklausel unbeeinträchtigt sind. Hier wird zum Gesamtergebnis ein positiver Beitrag geleistet, der aber nicht (wie bei der 30- oder 40-Prozent-Partei) durch einen ähnlich großen negativen Beitrag der linken Seite wieder abgedämpft wird. Ergebnis: Der Erfolgswert einer solchen Stimme ist erheblich höher als ohne 5-Prozent-Hürde, der "Jackpot-Effekt" kommt voll zum Tragen.

Ergebnis: Zahlenwerte

In folgender Tabelle habe ich das Ergebnis der Berechnung (bei Gauß-Verteilung mit verschiedenen Standardabweichungen) angegeben.
Die Standardabweichung (die Streuung) ist dabei ein Maß für die Genauigkeit der Vorhersage. Wie groß sie bei konkreten Umfragen nun tatsächlich ist, sollte eigentlich bei der Veröffentlichung dazu gesagt werden, was aber in der Presse selten geschieht. Man könnte sie einschätzen, wenn man eine große Anzahl von Daten über vergangene Vorhersagen und die tatsächlich eingetretenen Wahlergebnisse zur Verfügung hätte. Bei einer Standardabweichung von z.B. 2 Prozentpunkten würden etwas weniger als ein Drittel der vorhergesagten Werte um mehr als eben diese 2 Prozentpunkte vom tatsächlich erreichten Wahlergebnis abweichen. (Wenn jemand gute Zahlen zu diesem Thema hat, kann er sie mir gerne mailen!)
Die Tabelle listet die möglichen Vorhersagewerte in Schritten von einem viertel Prozentpunkt auf, auch wenn Wahlprognosen kaum mit dieser Genauigkeit getroffen werden, weil so der Verlauf besser sichtbar wird.
Die angegebenen Werte verstehen sich im Verhältnis zum "normalen" Erfolgswert einer Stimme ohne Einfluss der Sperrklausel, was hier als 1 gilt.

Ergebnistabelle: Faktor für den Einfluss einer 5%-Sperrklausel auf den Stimmenwert bei vorher geschätztem Wahlergebnis

Standardabweichung (Streuung) in Prozentpunkten
Prognose0,51,01,52,02,53,0
2,00%0,000,020,200,390,500,56
2,25%0,000,050,280,470,570,62
2,50%0,000,090,380,560,640,67
2,75%0,000,170,500,660,720,73
3,00%0,000,290,640,760,790,78
3,25%0,010,470,800,870,870,84
3,50%0,050,710,970,980,940,90
3,75%0,181,021,141,091,010,95
4,00%0,561,371,321,191,081,00
4,25%1,361,731,481,281,141,05
4,50%2,582,071,631,371,201,09
4,75%3,832,331,751,441,251,13
5,00%4,492,491,831,501,301,16
5,25%4,212,531,881,541,331,20
5,50%3,262,451,891,571,361,22
5,75%2,232,281,871,581,381,24
6,00%1,522,051,811,571,391,26
6,25%1,171,811,741,551,401,27
6,50%1,041,581,651,531,391,28
6,75%1,011,391,551,491,381,28
7,00%1,001,251,461,451,371,28
7,25%1,001,151,361,401,351,28
7,50%1,001,081,281,351,331,27
7,75%1,001,041,211,301,301,26
8,00%1,001,021,161,261,271,24
8,25%1,001,011,111,211,251,23
8,50%1,001,001,081,181,221,21
8,75%1,001,001,051,141,191,20
9,00%1,001,001,031,111,171,18
9,25%1,001,001,021,091,141,17
9,50%1,001,001,011,071,121,15
9,75%1,001,001,011,051,101,13
10,00%1,001,001,001,041,091,12

Man sieht, dass eine bekannte hohe Genauigkeit der Wahlvorhersage erstens den Wert der Stimmen stark erhöht, wenn sie in unmittelbarer Nähe der Hürde ist; zweitens aber den Bereich, in dem eine Stimme viel wert ist, um die Hürde herum zusammenschrumpfen lässt.
Auch das ist nachvollziehbar, wenn man sich die Extremfälle vorstellt, zwischen denen sich die Genauigkeit bewegen kann.
Im einen Extremfall hat man nur eine absolut nichtssagend ungenaue "Prognose", dass die Partei "irgendwo zwischen 0% und 100% liegen wird", dann ist die Stimme eben 1 wert, so wie bei einer Partei, die sicher über die Hürde kommt. Der Bonus-Bereich ist über die gesamte Skala hinweg eingeebnet.
Im anderen Extremfall sieht man den genauen Wahlausgang (mit Ausnahme seiner eigenen Stimmabgabe, die man sich ja noch überlegen kann) voraus. Dann liegt der Anteil der fraglichen Partei entweder genau so, dass die eigene Stimme sie über die Sperrklausel bringen würde. Die eigene Stimme ist dann enorm viel wert, weil man sozusagen Wohl und Wehe der ganzen Partei allein in Händen hält. Oder die Partei schafft es sowieso nicht, dann ist die eigene Stimme für diese Partei für die Mandatsgewinnung überhaupt nichts wert. Oder sie schafft es sowieso, dann spielt die Hürde keine Rolle für den Stimmenwert (Wenn man den Wahlausgang so exakt vorher wüsste, sollte man sich die genaue Sitzvergabe durchrechnen, aber das ist eine andere Frage).

Diese Berechnungsergebnisse zeigen, dass der taktische Wert einer Stimme bei vorhergesagten "Zitterpartien" an der Fünf-Prozent-Hürde attraktiv hoch sein kann, selbst wenn die Chance der Partei, die Hürde zu schaffen, an sich nicht besonders gut ist. Beispielsweise hat eine Partei X, der 4% vorausgesagt werden, bei Annahme eines Normalverteilten Prognosefehlers mit 2 Prozentpunkten Streuung nur eine 31-prozentige Chance, die Hürde zu schaffen, bei 1,5 Prozentpunkten Streuung sogar nur eine 25-prozentige. Der "Jackpot-Effekt" der Sperrklausel ist aber in beiden Fällen so stark, dass eine Stimme für diese Partei X ihr im Durchschnitt immer noch mehr bringt, als eine Stimme für eine Partei Y, die die 5%-Prozent-Hürde so gut wie sicher überwinden wird, für Y bewirkt. Im scheinbar ungünstigeren Fall (1,5 Prozentpunkte Streuung) sogar um rund ein Drittel mehr.


Um diese Tabelle wirklich nutzbringend verwenden zu können, bräuchte man, wie gesagt, die Standardabweichung der Wahlprognosen. Auch wenn ich leider nicht mit dieser Zahl dienen kann, so kann man sie doch mit einem gängigen statistischen Rezept abschätzen, wenn man zu einem bestiimten Wahlergebnis mehrere Vorhersagen vorliegen hat. Auf diese Idee bin ich gekommen, als ich auf www.wahlrecht.de (5) eine Sammlung von aktuellen Umfragen zur Europawahl vom 13.6.2004 gesehen habe. Interessehalber kann man sich hier einmal zu den dort (Stand 10.6.2004) angegebenen Vorhersagen für Grüne, FDP und PDS die durchschnittliche Vorhersage und Streuung von diesem kleinen Rechner ausrechnen lassen. Allerdings ist das nur eine oberflächliche Schätzung, da die Verschiedenheit der Umfragen (allen schon, was die Zeitpunkte angeht) dabei nicht berücksichtigt wird.

An den Beispieldaten in Verbindung mit der Tabelle wird jedenfalls erkennbar, dass der "Jackpot-Effekt" auch in der Praxis eine nicht zu unterschätzende Rolle spielt und auch bei an sich eher schlechten Vorhersagen den "Papierkorb-Effekt" noch mehr als aufwiegen kann.

Fußnoten

(1) Nach vielen Wahlgesetzen können sich auch Wahlvorschläge (Listen) zur Wahl aufstellen, die keine Parteien sind. Auf dieser Seite wird der Einfachheit halber immer nur von Parteien gesprochen; andere Gruppierungen sind mathematisch gleichwertig dazu und sind stillschweigend "mitgemeint".

(2) Wenn die Sperrklausel gilt, fallen i.A. noch andere Parteien heraus, und die 400 Sitze werden nicht entsprechend der vollen 100% der Stimmen verteilt, sondern nur der Stimmen für Parteien, die über die Hürde gekommen sind. Wenn mehrere Parteien daran gescheitert sind, können das sogar unter 95% sein. Für 5% kann es daher sogar etwas mehr als 20 Sitze geben.

(3) Es ist also kein Zufall, dass ich oben eine Wahlentscheidung mit einer Lotterie verglichen habe, und es sollte auch niemanden vom Wählen abschrecken, für den Glückkspiele etwas verwerflich Unseriöses sind. Bei taktischen Überlegungen zu einer Wahlentscheidung, die sich auf unsichere (wahrscheinlichkeitsbehaftete) Vorhersagen stützen, sind die mathematischen Methoden, die zur Beurteilung von Lottospielen usw. entwickelt wurden, genau die richtigen. Wären die Prognosen völlig sicher und präzise, bräuchte man die Wahl schließlich gar nicht mehr abzuhalten. Und wenn überhaupt keine Vorhersagen über den Wahlausgang möglich wären, würde sich das taktische Wählen erübrigen.

(4) Ich bin leider kein professioneller Mathematiker; sollten mir mit meinen etwas eingerosteten Kenntnissen irgendwo Fehler unterlaufen sein, bitte ich um Meldung an wastlsommer@web.de

(5) Dies ist ein externer Link auf eine Website eines anderen Autors. Der Autor dieser Site ist für die Inhalte der verlinkten Seite nicht verantwortlich.

(6) Bei Wahlen gibt es noch die interessante Überlegung, dass die Entscheidung, die man fällt, ja u.U. von anderen Leuten aus denselben Gründen ebenfalls getroffen wird. Man könnte sagen, man entscheidet in gewisser Weise für alle Leute mit, die genauso denken wie man selbst.

(7) Diese Beispielzahlen sind jeweils 8130*(i-1/2)+1 für den i-ten Sitz; die vollständige Liste ist 4066, 12196, 20326, 28456, 36586, 44716, 52846, 60976, 69106, 77236, 85366, 93496, 101626, 109756, 117886, 126016. Das ist aber nicht so ernst zu nehmen, weil bei echten Wahlen die Berechnung doch etwas komplizierter ist; es soll nur zeigen, dass man es im Prinzip berechnen könnte.

(8) Das Ganze ist ein bisschen wie eine Lotterie, bei der man Lose einer zweiten Lotterie gewinnt, die dann für die Ermittlung der Gewinne eingesetzt werden. Das macht es aber mathematisch auch nicht viel schwieriger. Wenn man bei einer Lotterie den Gesamtwert der Gewinne durch die Zahl der Lose teilt, um den Wert des einzelnen Loses zu ermitteln, so ist ja der Gesamtwert der Lose wieder der Gesamtwert der Gewinne. Wenn die Lose jetzt als Gewinne einer vorgeschalteten Lotterie ausgeschüttet werden, dann ist der Gesamtwert, den man durch die Zahl der Lose der vorgeschalteten Lotterie teilen muss, um deren Wert zu ermitteln, eh wieder derselbe.

(9) Wenn man die Vorhersage als Vorhersage mit der eigenen Stimme auffasst, erhält man eine etwas nach links verschobene Kurve für die Verteilung ohne diese Stimme. Wenn man die Vorhersage so auffasst, dass die eigene Stimme, da unsicher, nur zum Teil in ihr mitgezählt ist, dann erhält man eine etwas nach links verschobene Kurve für die Vorhersage ganz ohne sie, und eine etwas nach rechts verschobene Kurve für die Vorhersage ganz mit ihr. Diese Interpretationsfrage ist praktisch egal, da man auf jeden Fall eine linke und eine rechte Kurve erhält, die um eine Stimme gegeneinander verschoben sind. Entscheidend ist der Unterschied, den die Stimme macht, also die Abweichung der beiden Kurven voneinander. Ob das Ganze etwas weiter links oder rechts liegt, geht dagegen in der Unsicherheit der Vorhersage sowieso unter.

(10) Das klingt vielleicht etwas nach Hokuspokus, weil es ja unendlich viele unendlich kleine Stellen auf dieser horizontalen Achse der Ergebnisse gibt. Für so etwas ist die mathematische Teildisziplin der Infinitesimalrechnung (Differenzial- und Integralrechnung) zuständig. Man kann sich (wenn die beteiligten Kurven nicht ungewöhnlich sprunghaft sind) vorstellen, dass man dünne Streifen betrachtet (z.B. 1 Stimme oder ein 10000stel Prozent) und als Näherung so tun, als ob innerhalb des Streifens keine unterschiedlichen Wahrscheinlichkeitsdichten und Sitz-Erfolge vorkommen, sondern nur der eine z.B. auf der Mittelline des Streifens. Mathelehrer(innen) werden ggf. über diese Fragen gerne nähere Auskunft geben. Diese Funktion hat der Forumsteilnehmer c07 auf www.wahlrecht.de vorgeschlagen ("Das Problem ist, dass es sich dabei um gar keine wirkliche Wahrscheinlichkeitsverteilung handelt. Eine Wahl ist kein Zufallsexperiment. Du hast aber zwei grundsätzliche Möglichkeiten, so zu tun, als ob es so wär: [...]"). Ich bevorzuge die Annahme, dass log( p / (1 - p) ) mit gewisser Standardabweichung normalverteilt ist, wobei {p} das Ergebnis der Partei im Bereich ]0,1[ ist (also z.B. 0,05 bei 5%). Diese Funktion hat einige hübsche Eigenschaften:

  • Auf Prognosen unter 0% oder über 100% entfällt keine Wahrscheinlichkeit mehr, alle Werte über 0% und unter 100% sind aber komplett abgedeckt (natürlich bei großen Abweichungen nur mit winzigen Wahrscheinlichkeiten)
  • Bei Parteien in der Gegend von 50% ähnelt die Kurve der einer Normalverteilung
  • Bei kleinen Parteien wird eine Prognose mit dem doppelten "richtigen" Wert etwa dieselbe Wahrscheinlichkeit zugeschrieben wie einer mit dem halben "richtigen" Wert; das gilt auch für ander Faktoren als 2
  • Bei kleinen Parteien ist der Maßstab ziemlich egal; z.B. ist (bei gleichem Streuungsparameter) die Kurve einer 1000-Stimmen-Splitterpartei, dargestellt für Stimmen statt Prozente, bei einer Landtagswahl ziemlich dieselbe wie bei einer Bundestagswahl
  • Die ganze Sache ist symmetrisch um die 50%-Marke, d.h. z.B. wird (bei gleichem Streuungsparameter) einer 62%-Prognose für eine 61%-Partei dieselbe Wahrscheinlichkeit zugeschrieben wie einer 38%-Prognose für eine 39%-Partei.
  • Man kann -mit zusätzlichem Umrechnungsschritt der Prozentwerte auf eine andere Skala- die bekannten statistischen Verfahren für die Normalverteilung anwenden

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